Andrea Muheim (1968–2023, Zürich) war eine leidenschaftlich malende Zürcherin, die trotz aller Strömungen und Trends bei sich geblieben ist. Die neuste Motivwahl ist geprägt von urbaner werdenden Lebensbedingungen und der schweren Krankheit, die immer mehr Besitz von ihr ergriff. Die geschnittenen Blumen und der immer wichtiger werdende eigene Körper sind in Gefässe bzw. Bauten gefasst. Das Licht ist schwach und kommt von der «falschen» Seite, durch Fenster und Türen. Die Gegenstände und Portraits werden verdunkelt. Es entstehen Kontraste und Schattenspiele. Die Farben wirken mild, sie sind zurückhaltend gewählt und strahlen im Verborgenen. Der Hintergrund wird unscharf oder durch das gleissende Licht ganz verschluckt. Die Situation erscheint wichtiger als die Feinheiten. Grossartige Stadtkunst! Liebe Andrea, du fehlst der Kunst und fehlst fest in unseren Herzen



Beat Schweizer (1982, Bern) habe ich an der Jungkunst 2012 kennengelernt. In seinen Werken hat er den richtigen Ausschnitt gewählt, um die gewünschte Aussage zu treffen, hat die Anordnung der sich bewegenden Objekte in einem harmonischen und liebevollen Augenblick erfasst und Licht, Farbigkeit und Helligkeit bewusst gewählt, um Akzente zu setzen. Beats Fotografien sind schlüssig und vollendet.
Er rapportiert das Dasein der Menschen in den Diamantenminen in Sibirien oder jenes seiner in New York isoliert lebenden Familie während der Corona-Lockdown-Zeit. Wir sind abhängig/geprägt von unserem wirtschaftlichen und sozialen Status. Beat rückt den Menschen ins Zentrum des Bildes, mal sichtbar, mal fehlend: die verlassenen Restauranttische oder das Portrait seiner Frau während der morgendlichen Gesichtspflege. Das sieht aus wie Fotografien aus der Renaissance, wie bildende Kunst. Beat ist ein fotografischer Maler.



Helen Acosta Iglesias (1975, Gran Canaria, Spanien) habe ich an einer Hochzeit in Österreich kennengelernt. Ihre Kunst dreht sich unter anderem um die Suche nach dem, was wir Heimat nennen und wo wir diese finden: Ist es etwa ein Ort oder vielleicht ein Mensch? Kann man zu Orten überhaupt gehören?
In ihren Werken verschmelzen kanarische Wellen und Schweizer Berge miteinander. In der Bewegung verändert sich der Blickwinkel, und wir können mit unserer Sehnsucht spielen (Lentikular-Verfahren). Woher kommen und wohin verschwinden wir?
Mit Seidengarn stickt die Künstlerin ferne Sternenkonstellationen. Die Seele ihrer Grossmutter wird in einer Videoarbeit, dank einer umgedrehten Kamerafahrt mit Google Earth, vom Sterbebett in den Himmel entlassen. Heimat ist relativ und flüchtig: Mit einem einzigen Gedanken können wir sie auswechseln, bedeutend oder unbedeutend werden lassen, glücklich oder leidend sein.



Jason Rohr (Hausen AG, 1999) habe ich an der Jungkunst 2021 entdeckt. Seine klassische Malerei mit kitschigen und beschönigenden Farben resultiert möglicherweise aus dem Prozess, den seine Bildinhalte durchlaufen: Seine Modelle sind computergenerierte Avatare, die mit Hilfe klassischer Maltechniken Gestalt annehmen. Die Augen sind meist ein Irritationsmoment, da sie eine Tiefe oder einen Zugang zum Subjekt vermitteln, das gar nicht vorhanden ist, weil es ebenfalls künstlich generiert ist. Mode- und Design-Ikonen sowie seine – und somit auch unsere – nach Extravaganz und «speziell, wichtig sein» strebende Moderne werden zur Schau gestellt. Die selbst aufgenommenen Porträt- und Familienbilder widerspiegeln von Weitem unsere idealisierten Vorstellungen, doch unterwandern sie diese bei zunehmender Nähe mit ihrer Kälte und Unheimlichkeit. So nimmt unsere geliebte Familie die Form eines Algorithmus an, der unserer Reproduktion dient. Wir reproduzieren uns immer mehr nur noch in Ziffern. (Über-)leben wir so besser? Worin liegt der Wert, organisch und fehlerhaft zu sein? Jason macht einnehmende Blendwerke. Er blendet uns freundlich und liebenswert.


Laura Bott (1979, Santa Maria im Münstertal) habe ich als Langlauflehrerin von Ardez kennengelernt. Ihren Traumberuf, Forstwartin, verweigerte ihr das traditionelle Elternhaus. Die Langlaufkarriere endete mit einem Beinbruch und brachte sie nach Wien an die Kunstschule. Sie wohnt mit ihrem Sohn in die Engiadina bassa und versorgt sich selbst aus den Blumen- und Gemüsegärten. Beharrlich behauptet sie sich mit viel Stolz im konventionellen Bergtalleben.
Ihre Werke sind direkt aus ihrem Leben gefertigt. Die gesägten Baumfragmente setzt sie als dunkle Stempel ein, ihre angebrannten Kerzen werden zu weichen, grafischen Formen zusammengegossen, die Johannisbeerenreste vom eigenen Sirup aufs Papier gepresst. Im Winter verarbeitet sie die ihr in den Sinn kommenden Farben und Formen des Sommers zu rudimentären Engrammen. Sparsam, roh und eigenwillig. Ihr von der Hand rasch und ohne technische Hilfsmittel/Kunstmaterial zum Werk gelangendes Vorgehen hat nichts Beschönigendes oder Belehrendes. Bott macht es aufrichtig und gradlinig. Sie setzt eine ehrliche Marke gegen die sich selbst verehrende und im Trend liegende Ökologie-Kunst. Sie lebt unmittelbar in dieser (Kunst-)Mode (kaum beachtet). Laura, ich bewundere deine «Art»!



Seraina Feuerstein (Scuol)

Text: Ildegarda E. Scheidegger, Kunsthistorikerin

Die Buntheit des Monochromen
Gedanken zur imaginierten Realität in Seraina Feuersteins Werk

Auf dem Weg durchs Gehölz, Gebirge und Geäst auf der Suche nach ihrer persönlichen Landschaft. Farbe und ihre Nuancen, Licht und dessen Strahlkraft, sowie die Elemente in ihren diversen Emanationen werden verinnerlicht und als künstlerisches Repertoire registriert. Die Fotografie gehört zur Biografie der Engadiner Malerin. Die Künstlerin fokussiert die Linse auf das, was sie subjektiv wahrnimmt. Die Ablichtung löst bei ihr einen dekonstruktivistischen Blick auf die Natur aus. Sie zerteilt den Raum in Farb- und Lichtflächen und projiziert diese auf den Bildträger. Fast plakativ beschreibt sie in der Werkreihe «Wald» die Umgebung vor allem in satten grünen Tönen. Man vermutet etwas Lebendiges, Fühlbares. Sind es Räume, ist es Zeit?
In den «Wallflowers» sprengt Seraina Feuerstein das monochrom anmutende Korsett. Sie erlaubt sich sichtbare Farbtupfer und spielerische Zufallsformen. Die Serien entstehen in erkennbarer Leichtigkeit. Wahrhafte Launen der Natur, inspiriert von der Beobachtung des Lebens im Unterholz. Mit den sich auffächernden Pigmentspuren greift Seraina Feuerstein nach ihrem Fundus von Form und Farbe, die sich in allen Manifestationen entdecken lassen, denn wie das Leben, ist die Entschlüsselung der monochromen Fläche bunt. 



Susanne Keller (1980, Zürich) habe ich 2011 in der Galerie Stephan Witschi kennengelernt. Sie ist eine multimediale Künstlerin. Zu ihren Werken gehören neben ihren bühnenartigen, dreidimensionalen Installationen und Objekten auch Fotoserien, gemalte Bilder, Texte und Gedichte sowie Musik. Für den Aufbau ihrer bunten und filigranen Gesamtkunstwerke, die sie selbst «eine Materialisierung eines poetischen Gedankennetzes» nennt, benötigt sie mehrere Monate oder sogar Jahre bis zu deren Vollendung.
Sie ist unermüdlich am visuellen und geistigen Einrichten von vielschichtigen Bühnen, denen sie mit ihrem Gedankengut / ihrer Poesie eine symbolische Bildsprache und einen verschlüsselten Charakter verleiht. Was wie ein Märchenland aussieht, bekommt Titel wie «Die Schwangerschaft», «Das Bordell», «Bebilderung des Zellmembrans» etc.
Bei den Bebilderungs-Bühnen binden sie all unsere Sinne ein, macht uns zum Publikum. Ihre sehr persönliche Wahrnehmung ist feinfühlig und verspielt. Wir werden auf ihre Seite gezogen, und unsere Blicke werden behutsam auf Neues gelenkt. Als Kinder haben wir uns selbst (Schutz-)Räume gebastelt. Dort haben wir uns verkrochen und (allein, mit unseren realen oder imaginären Freund*innen) gespielt. Susannes Kunst ist eine gebaute bessere Welt. Indem sie uns einlädt, durch ihre «Linse zu schauen», führt sie uns in eine Fantasielandschaft und verleitet uns zum Träumen.
Für ihr letztes Grossprojekt «Volkstanz» (bis zum 7.1.2024 im Helmhaus Zürich) hat sie mit 387 Personen intuitiv geführte Interviews zum Thema «Was einem wichtig ist und was einen interessiert» gemacht. Der innere Fokus bei der Interviewführung lag darauf, einen essenziellen Satz aus dem mit Wissen gefüllten Raum zu generieren. Man durfte stundenlang über den wesentlichen Motor im Leben erzählen. Mein essenzieller Satz spricht nun aus dem raumgrossen Werk: «Kunscht, Künschtlerinnä und Künschtler fiirä». 


Fotos von Bruno Augsburger "Kunst zu Hause IV"

Andrea Muheim

Andrea Muheim

Jason Rohr
Jason Rohr

Helen Acosta


Seraina Feuerstein

Laura Bott

Andrea Muheim Laura Bott

Laura Bott

Seraina Feuerstein

Beat Schweizer